Früher war alles anders
Zwei gereifte Staatsanwälte blicken zurück. Früher ging Strafverfolgung ziemlich anders: weniger Professionalität, mehr Bürgernähe, keine Zwangsmassnahmen-Richterinnen und -Richter.
Jost Glaus und ich betraten die Bühne der Strafrechtspflege unseres ringförmigen Staatswesens Anfang der 1990er-Jahre. Das Strafverfahren war damals völlig anders organisiert. Der Strafprozess war kantonal geregelt. In St.Gallen wie auch in vielen anderen Kantonen herrschte das System des Untersuchungsrichtermodells II. Untersuchung und Anklage waren grundsätzlich geteilt.
Staatsanwälte wie unabhängige Richter
Untersuchungsrichter und -beamte wirkten in den Bezirksämtern und am Untersuchungsrichteramt St.Gallen. Einige von ihnen, die Bezirksammänner, wurden vom Volk gewählt. Der Untersuchungsrichter unterstand der Weisungsbefugnis der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwälte hatten ihre Büros allesamt in der Stadt St.Gallen an der Spiessergasse 15 und wurden nicht wie heute vom Regierungsrat, sondern vom Kantonsrat gewählt. Sie besassen eigentliche richterliche Unabhängigkeit. Hinsichtlich der Führung des Verfahrens und der Anklagevertretung waren die Kompetenzen zwischen dem Untersuchungsrichter und der Staatsanwaltschaft verteilt. Die Untersuchungsrichter unterstanden in personeller Hinsicht dem Bezirksamt oder dem Leiter des Untersuchungsrichteramts und in fachlicher Hinsicht der Staatsanwaltschaft. Der Staatsanwalt hatte weitreichende Mitwirkungs-, Aufsichts- und Weisungsrechte und konnte theoretisch auch als Verfahrensleiter auftreten bzw. eine Untersuchung an sich ziehen. In der Regel begnügte er sich damit, die Untersuchungsrichter und -beamten an den Bezirksämtern zu beaufsichtigen und ihre Schlussverfügungen zu prüfen, ähnlich der heutigen Vorkontrolle. Wir erinnern uns an die Berge von Post, die wöchentlich von Uznach, Flums, Buchs, Benken oder Wil – wo Jost Glaus und ich damals gewirkt haben – nach St.Gallen geschickt wurden. Vor Gericht, egal vor welcher Instanz, trat einzig der Staatsanwalt als Ankläger auf.
Eine Besonderheit war die Vielseitigkeit der Aufgaben des Bezirksamts. Es war nur knapp zur Hälfte im Strafrecht tätig, sonst aber im Zivilrecht (etwa im Adoptions- oder im Erbrecht) und im Verwaltungsrecht oder Staatsrecht (zum Beispiel bei Wahlen und Abstimmungen).
Der Stellvertreter des Bezirksammanns war oft ein blutiger Laie in Sachen Strafrecht, zum Beispiel ein Sekundarlehrer oder ein Gemeindeammann
Laien im Einsatz
Es gab einige sehr kleine Einheiten. Die kleinsten der total 14 Bezirksämter waren mit nur gerade drei Personen besetzt, dem Bezirksammann, dem Amtsschreiber und einer 100%-Stelle für die Kanzlei (oft aufgeteilt auf zwei Personen). Das etwas grössere Bezirksamt Sargans hatte zu meiner Zeit – von 1994 bis 1998 – einen Bezirksammann, einen Amtsschreiber, einen Untersuchungsbeamten und einen, später zwei Untersuchungsrichter (alles Vollzeitstellen). Hinzu kamen rund 250 Stellenprozent für Kanzleipersonal und meist noch ein Untersuchungsrichter fix zu 50 Prozent sowie ein ausserordentlicher Untersuchungsrichter auf beschränkte Zeit. Im Bezirk Werdenberg war dies ähnlich.
Aufgrund der geringen personellen Besetzung leistete man alle drei oder vier Wochen jeweils eine Woche Pikett, also viel häufiger als heute. Es war auch Usus, deutlich öfter auszurücken. In der Regel leisteten der Bezirksammann, der Untersuchungsrichter – sofern es einen gab – und der Amtsschreiber sowie der Stellvertreter des Bezirksammanns Pikettdienst – ein Kuriosum. Der Stellvertreter des Bezirksammanns war oft ein blutiger Laie in Sachen Strafrecht, zum Beispiel ein Sekundarlehrer oder ein Gemeindeammann. Dies mochte daher rühren, dass Bezirksämter in früheren Jahrzehnten bei Gesetzesvergehen noch relativ viel Kompetenzen besassen. Oft führte dies dazu, dass der ordentliche Untersuchungsrichter am Montag «nachputzen» musste. Bisweilen hatten Stellvertreter Verfügungen getroffen, die nach Recht und Gesetz fragwürdig oder sogar unhaltbar waren.
Wer eine Schreibmaschine mit einer Löschtaste besass, durfte sich glücklich schätzen
Keine Zeit für Floskeln
Die materiellen Ressourcen waren zu Beginn unserer Amtstätigkeit äusserst dürftig. Wer eine Schreibmaschine mit einer Löschtaste besass, durfte sich glücklich schätzen. Sie erlaubte es immerhin, die letzten paar Anschläge rückgängig zu machen, wenn man sich vertippt hatte – sofern man dies rechtzeitig bemerkte. Als absoluter Luxus galten Maschinen mit Speicherfunktion: Man konnte auf einem kleinen Display zuerst ein paar Zeichen voraustippen und bei Gefallen die Schreibfunktion auslösen. Der Vorteil gegenüber heute: Man war gezwungen, sich kurz zu fassen. Für die heutige Unsitte, unnütze Floskeln und Kommentare in die Verfügungen zu packen, blieb schlicht keine Zeit.
Zwangsmassnahmengerichte gab es nicht. Wozu auch? Das Haftverfahren lag zumindest zu Beginn vollständig in der Verantwortung des Untersuchungsrichters. Dieser konnte selbstständig bis zu einem Monat Untersuchungshaft verfügen. War die oder der Verhaftete deswegen schlechter geschützt als heute? Kaum, denn sie oder er konnte gegen die Haft bei der Anklagekammer jederzeit Beschwerde einlegen. Nach unserer Einschätzung geschah dies zwar selten, das Prozedere war aber mindestens so effizient wie heute beim Zwangsmassnahmenrichter. Ich erinnere mich, dass der Präsident der Anklagekammer ab und an zum Hörer griff und einen Untersuchungsrichter anwies, den Verhafteten «subito»[1] auf freien Fuss zu setzen. Es lief ohne langfädige Copy/Paste-Zitate aus juristischer Literatur ab, war dafür umso deutlicher.
Waren Häftlinge in verschiedenen Untersuchungsgefängnissen untergebracht, mussten wir uns mit der Schreibmaschine unterm Arm vor Ort bemühen und dort die Einvernahme gleich selbst tippen. Immerhin gab es vorgedruckte Formulare, etwa für Durchsuchungsbefehle und Beschlagnahmen, aber auch für Vorladungen und Einvernahmen.
Allmählich kamen die ersten Computer auf, die diesen Namen allerdings kaum verdienten. Das berüchtigte «System Wang» bestand aus einem winzigen Bildschirm mit schwarzem Hintergrund und giftgrünen Schriftzeichen. Man konnte nun Texte leichter löschen und hatte einen Drucker am Arbeitsplatz. Aber ansonsten unterschied sich diese Neuerung kaum von der herkömmlichen Schreibmaschine.
[1] Wort des unvergessenen Dr. Bernhard «Hardy» Notter, damals Kantonsrichter und bleibende Autorität in der st.gallischen Strafrechtspflege. Vivat et floreat!
Begrenzte Kompetenzen im Strafrecht
Die Kompetenzen im Strafrecht waren gegenüber heute wesentlich eingeschränkt. Im Strafbefehlsverfahren war zunächst eine Freiheitsstrafe von einem Monat die oberste Grenze. Was darüber hinausging, musste bei der Gerichtskommission des Bezirksgerichts oder höheren Gerichten angeklagt werden. Die Gerichtskommission war eine Kammer mit drei Richtern. Meist handelte es sich um zwei Laien und einen Juristen als Vorsitzenden. Wir sprechen von einer Zeit, in der die Strafrechtspflege noch weitgehend eine Domäne der Gerichte war.
Die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Untersuchungsrichter waren bedeutend grösser als jene der heutigen Staatsanwälte. Zwar kam es vor, dass der zuständige Staatsanwalt in St.Gallen einen bereits erlassenen Strafbescheid oder eine Nichteintretensverfügung aufhob. Doch dies geschah recht selten. Der Bezirksammann war als Leiter des Amtes vom Volk gewählt und besass dementsprechend eine politische Hausmacht. Dies setzte der Hierarchie der leitenden Staatsanwälte spürbare Grenzen.
Als Untersuchungsrichter habe ich in zwei Bezirken erlebt, dass ich der einzige Jurist im Amt war. So durfte ich den Bezirksammann oft bei seinen vielfältigen Geschäften im Zivilrecht oder Verwaltungsrecht unterstützen und beraten. Für mein Selbstwertgefühl, aber auch für die Entfaltung von Rechtskenntnissen, die über das Strafrecht hinausreichten, empfand ich dies durchaus als Gewinn.