Das Gesetz über die Strafrechtspflege bei Verbrechen und Vergehen von 1912 (StP) – ein grosser Wurf
Was lange währt, wird endlich gut – Soll die Anklagekammer abgeschafft werden? – Ideen zur Dezentralisierung der Staatsanwaltschaft – Der Erste Staatsanwalt setzt sich durch – Volksnahes und praktisches Recht – Der Kanton St.Gallen will keine Schwurgerichte.
Das Gesetz über die Strafrechtspflege bei Verbrechen und Vergehen vom 27. Februar 1912 stärkte die Stellung der Staatsanwaltschaft. Es baute ihre Aufgaben weiter aus. In der Kantonsverfassung vom 16. November 1890 war sie erstmals im Grundgesetz des Kantons so ausdrücklich aufgeführt.[1]
[1] Art. 89 KV-1890: Der Grosse Rat wählt den Staatsschreiber, den Staatsanwalt, die Anklagekammer und die Bankkommission.
Die Hauptstossrichtung der Revision war, die bisher separaten Prozessgesetze bei Verbrechen und Vergehen in einem Kodex zu verschmelzen.
Was lange währt, wird endlich gut
Der Weg dahin war lang und steinig. Das einst so fortschrittliche Gesetz über den Kriminalprozess von 1865 und die weiteren Strafprozessgesetze des Kantons St.Gallen waren in die Jahre gekommen. Allseits herrschte Einigkeit, dass eine Teilrevision nicht genügen würde. Der Altstätter Rechtsanwalt, Kantonsrat und Kassationsrichter Carl Zurburg[2] machte den Anfang. Seine 1904 im Grossen Rat eingereichte Motion beauftragte den Regierungsrat, abzuklären, ob und inwiefern die Gesetzgebung über die Strafrechtspflege zu revidieren sei.
Das Justizdepartement versuchte darauf, die Erfahrungen, Ansichten und Wünsche aller mit der Strafrechtspflege betrauten Behörden und Ämter zu ermitteln. Es richtete in einer Art qualifizierter Vernehmlassung ein Zirkular an sie, das die wichtigsten Punkte einer möglichen Revision aufzeigte, und bewies damit Weitsicht. Die Antworten gingen schleppend ein. Im Verlauf des Jahres 1906 gelangte das Departement endlich in den Besitz des Materials. Die Wünsche und Anträge gingen in alle Richtungen auseinander. Zur Klärung der Angelegenheit bestellte das Departement unter der Leitung von Regierungsrat Schubiger eine Expertenkommission. Darin fanden sich der Motionär Zurburg und Vertreter des Kantonsgerichts, der Anklagekammer, der Staatsanwaltschaft, der Bezirksgerichtspräsidenten sowie der Bezirks- und Gemeindeammänner. Die Kommission beriet die vielschichtige Materie anhand einer vom Departement ausgearbeiteten systematischen Zusammenstellung. Sie kam mit klaren Mehrheitsbeschlüssen zu einer Reihe von Vorschlägen. Daraus erstattete das Departement im Oktober 1907 einen einlässlichen «Bericht betreffend die Revision der Gesetzgebung über die Strafrechtspflege». Dieser wurde den Mitgliedern des Grossen Rats und sämtlichen Organen der Strafrechtspflege zugestellt. Über die weiteren Revisionspunkte beriet sich das Departement insbesondere mit dem Kantonsgericht und dem Ersten Staatsanwalt.[3] Die Hauptstossrichtung der Revision war, die bisher separaten Prozessgesetze bei Verbrechen und Vergehen in einem Kodex zu verschmelzen.[4] Dies zwang die Redaktoren zu einer rigorosen Umarbeitung des Gesetzestextes.
[2] Geb. 19.1.1859 in Ragaz, gest. 12.11.1928 in Altstätten, kath., von Balgach. Rechtsstud. in Tübingen, Zürich und Basel. Von 1885 an Anwalt in Altstätten. Mitarbeit beim «Rheintaler». Ab 1902 Mitglied des Kassationsgerichts (1909–1925 Präsident). 1889–1890 Verfassungsrat, 1891–1915 St.Galler Kantonsrat (1914–1915 Präsident), 1905–1925 Nationalrat. Der kath.-konservative Politiker setzte sich u.a. für das Bundesgesetz über Jagd und Vogelschutz, den eidg. Fähigkeitsausweis für Anwälte sowie für Rheintaler Anliegen ein. 1919–1920 befürwortete er den Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz. Zurburg half beim Aufbau der christlichsozialen Organisationen im Oberrheintal. 1911–1928 Verwaltungsrat der Altstätten-Gais-Bahn. GÖLDI, Wolfgang in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 1.11.2019. Online: Zurburg, Carl (hls-dhs-dss.ch) , konsultiert am 7.12.2022. [3] Botschaft des Regierungsratss betreffend das Gesetz über die Strafrechtspflege bei Verbrechen und Vergehen vom 13.5.1910, Seite 721 f. [4] ebenda, Seite 723 unten.
Volksnahes und praktisches Recht
In seinem Entwurf vermied der Regierungsrat eine lehrbuchartige Anordnung des Stoffes und ging stattdessen chronologisch-praktisch vor. Nach den organisatorischen und allgemeinen Bestimmungen wurde das Untersuchungsverfahren mit all seinen Amtshandlungen und Rechtsverhältnissen dargestellt. Stufenweise folgten die Bestimmungen über das gerichtliche Verfahren vor den verschiedenen Instanzen und weiter die Bestimmungen über das Verfahren gegen Abwesende, die Rechtsmittel, die Begnadigung, die Rehabilitation sowie der Strafvollzug. Mit einer einfachen und praxisnahen Darstellung wollte der Regierungsrat den weniger rechtskundigen Organen der Strafrechtspflege ein Instrument in die Hände legen, das leicht zu handhaben war.[5] Bei der Beschreibung des Umfangs der Revision zeigte er sich befriedigt darüber, dass im Kanton St.Gallen an der Stellung der Staatsanwaltschaft nichts Grundsätzliches zu ändern war und verband dies mit anerkennenden Worten: «Auch die Haltung unserer Staatsanwaltschaft in Bezug auf Objektivität und Pflege des materiellen Rechtes entspricht nach Gesetz und Praxis vollständig den bezüglichen Anforderungen der Zeit.»[6] Bemerkenswert differenzierend erscheint diese Haltung vor dem Hintergrund, dass in der gleichen Botschaft die Rede ist von «in den letzten Jahren eingetretenen Geschäftsanhäufungen, Verschleppungen und Rufen nach einer Entlastung bei der Staatsanwaltschaft». Damit wies der Regierungsrat darauf hin, dass die Geschäfte allgemein zugenommen hatten. Die Leitungen an die Gerichte waren in den vergangenen fünf Jahren um 40 Prozent gestiegen. Zudem war die Staatsanwaltschaft mit der Errichtung von neuen Rechtsinstituten wie dem Generalstrafregister[7] und den bedingten Strafen sowie durch besonders komplizierte und zeitraubende Fälle stark beansprucht. Schliesslich erinnerte der Regierungsrat daran, dass die Staatsanwaltschaft im Kanton St.Gallen wesentliche Aufgaben zu lösen habe, die in anderen Kantonen die Bezirksammänner und anderes Personal erledigen würden. Als Beispiele nannte er die vorläufige Einstellung von Untersuchungen, die definitive Einstellung von Verfahren bei Vergehen, die Beaufsichtigung der Untersuchungsbeamten, die Erteilung von Bescheiden in zweifelhaften Fällen und die selbstständige Ergänzung mangelhafter Untersuchungen.
[5] ebenda, Seite 724. [6] ebenda, Seite 723. [7] Von VOSTRA war man damals noch weit entfernt. Das Strafregisterrecht war weitgehend in der Hand der Kantone und im Kanton St.Gallen eine (aufwendige) Aufgabe der Staatsanwaltschaft.
Aus heutiger Sicht mag uns dieses Anklageprüfungsverfahren kompliziert und kaum finanzierbar erscheinen. Aber es war ein Gewinn an Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit.
Soll die Anklagekammer abgeschafft werden?
Auf welchem Niveau der Kanton St.Gallen zu jener Zeit Strafrechtspflege praktizierte, wird aus den Überlegungen des Regierungsrats zur Frage der Abschaffung der Anklagekammer deutlich. Dieser Diskussionspunkt war von verschiedener Seite aufgebracht worden. Die Befürworter argumentierten, die Verhängung des Anklagezustands sei eine formelle Sache. Der Staatsanwalt – oder in schweren Fällen die Strafkammer des Kantonsgerichts – könne die Aufhebung des Verfahrens verfügen. Die Aufsicht über die Staatsanwaltschaft und die Entscheidung in Beschwerdefällen könne man einer kantonsgerichtlichen Rekurskommission übertragen. Schliesslich sei das Institut der Anklagekammer einzelnen Kantonen und dem Deutschen Reich nicht bekannt. Dem trat der Regierungsrat entschieden entgegen. Er führte ins Feld, dass eine Mittelinstanz zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht wichtig sei, ebenso wie eine spezielle Aufsicht über die Staatsanwaltschaft. Die Frage, ob eine Person unter der Anklage eines Verbrechens vor Gericht gestellt werden soll, sei von grösster Tragweite und der Prüfung durch eine besondere (richterliche) Behörde wert. Wo das Bezirksamt und die Staatsanwaltschaft über die Anklage ans Gericht ungleicher Ansicht seien, sei es fast unerlässlich, dass eine höhere Instanz entscheide, nämlich der Präsident der Anklagekammer.[8] Aus heutiger Sicht mag uns dieses Anklageprüfungsverfahren kompliziert und kaum finanzierbar erscheinen. Aber es war ein Gewinn an Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit.
Der Erste Staatsanwalt setzt sich gegen die Dezentralisierung durch
Die Unterlagen im Dossier «Akten der Gesetzesrevision zum Gesetz über den Strafprozess bei Verbrechen und Vergehen von 1912»[9] des Staatsarchivs bilden einen aussergewöhnlich ergiebigen, interessanten Fundus – nicht nur zu den Befindlichkeiten der Staatsanwaltschaft, sondern überhaupt zur Rechtswirklichkeit des Kantons St.Gallen zu jener Zeit. Zielstrebig und mit grosser Energie beteiligten sich die Main Player der kantonalen Strafrechtspflege an der Revisionsarbeit. Eine herausragende Rolle spielten dabei ein ehemaliger und ein amtierender Staatsanwalt: Kantonsgerichtspräsident und Ständerat Dr. Johannes Geel aus Sargans[10] und der Erste Staatsanwalt Dr. Leonhard Gmür[11]. Beide waren Mitglieder der Expertenkommission und nahmen an den meisten Sitzungen der grossrätlichen Kommissionen zur Beratung des Gesetzes teil. Dabei gelang es Gmür, einige dringend notwendige Entlastungen der Staatsanwaltschaft in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Aus Erfahrung wusste er, dass die drückende Geschäftslast der Staatsanwaltschaft eine Folge der ebenso stark belasteten Bezirksämter war. Diese forderten oft zu früh Rat und Weisungen des Staatsanwalts an, um die Untersuchung nicht selbst führen zu müssen. Deshalb postulierte Gmür auch die Entlastung der Bezirksämter zu postulieren. Andererseits lag ihm sehr an der Erhaltung der Qualität einer einheitlichen und überzeugenden Rechtsprechung. Beharrlich, klug argumentierend, mit Durchsetzungsvermögen und daher letztlich erfolgreich setzte er sich zur Wehr. Es gelang ihm, die drohende Dezentralisierung und teilweise Entmachtung der Staatsanwaltschaft durch die vorgeschlagene Einführung von Kreisanwälten[12] zu verhindern.
In einer undatierten Eingabe[13] an das Justizdepartement machte Gmür deutlich, wo der st.-gallische Strafrechtspflege der Schuh drückte: «Nicht nur die Fähigkeiten der Richter, sondern auch die Rechtsanschauungen im Volke differieren in den verschiedenen Bezirken unseres Kantons derart, dass es zu der Wirkung einer möglichst gleichmässigen Spruchpraxis unerlässlich ist, alle Fäden […] an einer Zentralstelle zusammenlaufen zu lassen und diese Stelle ist die Staatsanwaltschaft. […] Die Decentralisation der Staatsanwaltschaft […] schliesst in sich die Gefahr widerspruchsvoller Auslegung des Rechts und ungleicher Handhabung der Strafgesetze und des Strafprocesses und ist schon deshalb zweifellos verwerflich.»[14] Hier verrät der Erste Staatsanwalt nicht nur Etliches über seine praktischen Kenntnisse des Rechtsalltags, sondern auch über die Zustände in anderen Kantonen: «Die Bezirksanwälte des Kantons Zürich üben zurzeit ganz dieselben Funktionen aus, wie die Bezirksstatthalter des Kantons Zürich in der Strafrechtspflege und unterscheiden sich von den letzteren nur dadurch, dass sie nicht auch Administrativ-Beamte sind. Sie sind lediglich für die Städte Zürich und Winterthur eingesetzt worden. […] Die Bezirksanwälte sind keine Vervielfältigungen des Staatsanwaltes, vielmehr stehen sie zu demselben im gleichen Verhältnis wie der Statthalter des Kantons Zürich oder der Bezirksammann des Kantons St.Gallen; allerdings mit weitergehenden Kompetenzen als die letzteren und hier sind wir dann an dem Punkte angelangt, wo eine Reorganisation zweckmässig und notwendig ist.»
Bereits im Verlauf der Revisionsarbeiten wurde in diesem Punkt etwas Erleichterung geschaffen. Das Nachtragsgesetz zum Gesetz betreffend die Organisation der Verwaltungsbehörden grösserer Gemeinden und Bezirke erteilte dem Grossen Rat die Kompetenz, in grösseren Bezirken durch Beschluss Untersuchungsregionen und Untersuchungsrichterstellen zu schaffen. Dort konnten Untersuchungsrichter analog dem Bezirksammann vom Volk gewählt werden.[15] Zudem wurde der Regierungsrat ermächtigt, überlasteten Bezirksämtern ständig oder zeitweise weiteres Kanzleipersonal zu bewilligen.[16]
[8] Botschaft des Regierungsrats betreffend das Gesetz über die Strafrechtspflege bei Verbrechen und Vergehen vom 13.5.1910, Seite 729. [9] KA R.80-9 Gesetz betreffend die Strafrechtspflege, 1904– (Dossier). [10] Geb. 13.7.1854 in Sargans, gest. 24.1.1937 in St.Gallen, kath., von Sargans. Studium der Rechte in München, Paris und Strassburg. Advokat. 1881–1890 Bezirksgerichtsschreiber in Sargans, 1890–1897 Staatsanwalt, 1897–1924 St.Galler Kantonsrichter (ab 1900 Präsident). 1891–1919 freisinniger St.Galler Grossrat, 1896–1931 Ständerat (1915 Präsident). Geel beschäftigte sich mit den rechtlichen Belangen der Elektrizitätswirtschaft und war langjähriger Leiter der Eidg. Kommission für elektrische Anlagen. Siehe GEMPERLI, Stefan in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.8.2005. Online: Geel, Johannes (hls-dhs-dss.ch), konsultiert am 7.12.2022. [11] Leonhard Gmür, während dreier Jahrzehnte Erster Staatsanwalt, war der jüngere Bruder des Staatsanwalts Carl Gmür. Ich werde in einem späteren Bericht ausführlicher auf diese markante Persönlichkeit der st.-gallischen Strafrechtspflege eingehen. [12] Die Einführung dieses schrägen Begriffs kam im Zuge von REDOR, der letzten grossen Reorganisation der Behörden der Strafrechtspflege im Kanton St.Gallen im Jahr 2000, erneut zur Sprache. Dies sorgte bei etlichen stolzen Untersuchungsrichtern für rote Köpfe und wurde – zum Glück verworfen. [13] Es dürfte sich hier um die Eingabe vom 8.4.1911 handeln, die auf Seite 4 des Sitzungsprotokolls der grossrätlichen Kommission vom 10.4.1911 erwähnt wird. [14] Im Zuge der Beratungen zu REDOR und dem Gesetz über den Strafprozess wurde mit den grundsätzlich gleichen Argumenten rund 90 Jahre später die Staatsanwälte-Konferenz eingeführt. Man darf Gmür daher durchaus als deren Spiritus Rector bezeichnen. [15] Art. 8 Nachtragsgesetz zum Gesetz betreffend die Organisation der Verwaltungsbehörden in grösseren Gemeinden und Bezirken vom 23.5.1907, Gesetzessammlung Bd. I Nummer 24. [16] Art. 11 Nachtragsgesetz zum Gesetz betreffend die Organisation der Verwaltungsbehörden in grösseren Gemeinden und Bezirken vom 23.5.1907, Gesetzessammlung Bd. I Nummer 24.
Bereits im Jahr 1907 verlangte er damit inhaltlich die Einführung der notwendigen Verteidigung. Diese sollte erst am 5. Oktober 2007, also 100 Jahre später, mit der Schweizerischen Strafprozessordnung auf Bundesebene Gesetz werden.
Staatsanwaltschaft chronisch überlastet
Offensichtlich hatte die Staatsanwaltschaft unter der historisch gewachsenen inkohärenten Organisation der Strafverfolgungsbehörden zu leiden. Die Untersuchungsbeamten, besonders die Bezirksammänner, wurden vom Volk gewählt und besassen folglich eine starke demokratische Legitimation mit einer politischen Hausmacht sowie entsprechendes Selbstbewusstsein. Dies limitierte die Weisungsgewalt des Staatsanwalts beträchtlich. Er konnte sich schlecht dagegen wehren, dass die Bezirksämter zu oft um Weisungen der Staatsanwaltschaft nachsuchten: «Wenn Prozeduren 3 & 4 Mal mit Weisungen zu oft selbstverständlichen, ja sogar durch Gesetz vorgeschriebenen Ergänzungen zurückgesandt werden müssen, wie dies bei einzelnen Untersuchungsbeamten immer noch der Fall ist, so bedeutet das eben ein in längeren Zeitabständen immer wieder von neuem notwendiges Studium derselben Prozedur, mit einem im gleichen Masse vervielfachten Zeitaufwand. Die Entlastung nach unten ist erforderlich. Um ein Bild zu gebrauchen, können wir sagen: der Patient leidet an übermässigem Blutdrang nach oben und die richtige Behandlung besteht deshalb in Anwendung nach unten ableitender Mittel.»
Leonhard Gmür ortete einen weiteren Grund für die chronische Überlastung der Staatsanwaltschaft: Art. 205 Abs. 1 des damals geltenden st.-gallischen Strafgesetzbuches über Verbrechen und Vergehen vom 25. November 1885 schrieb den Bezirksammännern vor, in allen Fällen, wo Arbeitshausstrafe[17] im Sinn von Art. 5 lit. b Ziff. 1 des nämlichen Erlasses infrage kam, die Untersuchungsakten an den Staatsanwalt einzusenden. Dieser hatte dann zu entscheiden, ob die Anklage ans Bezirksgericht oder direkt ans Kantonsgericht zu überweisen sei.[18] Eine Vielzahl von Delikten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität war mit der abstrakten Strafandrohung «Arbeitshausstrafe» versehen (gemäss Art. 8 des nämlichen Gesetzes eine Strafdauer von mindestens drei Monaten und höchstens sechs Jahren). Daher regelte diese Bestimmung ein eigentliches Massengeschäft. Dies veranlasste Gmür, eine Kompetenzerweiterung der Untersuchungsbeamten zu verlangen: «Es ist durchaus notwendig, um eine nutzlose Belastung der Staatsanwaltschaft und eine die Untersuchungspendenz verlängernde Aktensendung und Antragstellung seitens der Bezirksämter zu verhüten, dass dem Bezirksammann das Recht eingeräumt wird, in Fällen, wo durch Geständnis oder sonst zuverlässige Erhebungen Strafeinleitung ausser Zweifel steht und die Spruchkompetenz zweifellos bei den unteren Gerichten begründet ist, direkte Leitung vornehmen zu dürfen.»
Beachtlich erscheint mir bei Gmür eine dem Geist seiner Zeit vorausgehende Einstellung von Recht und Gerechtigkeit, zum Beispiel im Umgang mit der Strafverteidigung. Zunächst trat er mit überzeugenden Worten für ein Beibehalten des Instituts der öffentlichen Verteidigung ein, dessen Abschaffung im Zug der Gesetzesrevision verschiedene Seiten gefordert hatten. Die damals vorherrschende Meinung, dass die Verteidigung erst am Schluss der Strafuntersuchung über die Aktenlage ins Bild zu setzen sei, stellte der Erste Staatsanwalt durchaus in Frage. Er bezeichnete es als empfehlenswerte Neuerung, dass Staatsanwaltschaft und Bezirksamt das Recht erhalten sollten, dem Verteidiger vor Strafeinleitung Akteneinsicht zu geben und Besprechungen mit den Beschuldigten zu gestatten. Er sollte auch das Recht haben, Ergänzungsgesuche zu stellen. Gmür bekannte offen, dass er sein Gewissen bisweilen über die Härte des Gesetzes gestellt hatte: «Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Praxis des Unterzeichneten in dieser Beziehung sich Freiheiten erlaubte, welche durch eine Revision des Prozesses auch gesetzlich gewährleistet werden sollten, weil sie die Gerechtigkeit bei vorsichtiger Handhabung des Erlaubnisrechtes[19] nicht gefährden, wohl aber zur Förderung derselben beitragen können.» Bereits im Jahr 1907 verlangte er damit inhaltlich die Einführung der notwendigen Verteidigung. Diese sollte erst am 5. Oktober 2007, also 100 Jahre später, mit der Schweizerischen Strafprozessordnung auf Bundesebene Gesetz werden.[20]
Aus den Materialien zur Gesetzesrevision erfahren wir nebenbei, dass Staatsanwalt Leonhard Gmür sich gerne wissenschaftlich betätigt hätte, um einen einheitlichen Kommentar zum Strafgesetzbuch zu verfassen, der «der gesamten strafrechtlichen Praxis zu ungemeinem Vorteile gereicht hätte»[21]. Der Mangel an Zeit durch die ständig steigende Geschäftslast der Staatsanwaltschaft liess dies allerdings nicht zu.
[17] Diese war als mittelschwere Freiheitsstrafe auch in den Kantonen Thurgau, Schaffhausen, Luzern, Obwalden, Bern, Freiburg, Glarus, Zürich, Zug, Schwyz und Solothurn bekannt. Sie wurde regelmässig in derselben Anstalt wie die Zuchthausstrafe vollzogen, siehe STOOSS, Carl, Die Grundzüge des Schweizerischen Strafrechts, Basel und Genf 1892, S. 311 f. [18] Art. 205 Abs. 1 Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen: Die (Bezirksammänner haben, nach Vollständigbefinden einer korrektionellen Untersuchung, in allen Fällen, in welchen die Arbeitshausstrafe in Frage kommen kann, am Schluss der Untersuchung den Angeschuldigten zu befragen, ob er bei unmittelbarer Leitung des Falles an das Kantonsgericht, die Verbeiständung durch den öffentlichen Verteidiger verlange, oder welchen Privatverteidiger er bezeichne – und hierauf die Untersuchungsakten an den Staatsanwalt einzusenden zum Entscheide, ob der Fall an das Bezirksgericht oder unmittelbar an das Kantonsgericht zu leiten sei. [19] Erlaubnisrecht: Blosses Recht, etwas tun zu dürfen, ohne dafür bestraft zu werden, im Gegensatz zum stärkeren Anspruchsrecht = Recht, etwas tun zu können. [20] Wörtlich forderte Leonhard Gmür: «In Fällen, die eigentlich ans Kantonsgericht gehören, sollte man dem Angeschuldigten doch einen Verteidiger geben.» Sitzungsprotokoll der Expertenkommission zur Revision des Strafprozesses vom 17.4.1907, Seite 11. [21] Protokoll der Grossrätlichen Kommission, Sitzung vom 10. April 1911, Seite 4 unten.
Zum Anlass des 150-Jahr-Jubiläums der Staatsanwaltschaft St.Gallen im Jahr 2015 befasste sich Elmar Tremp, Staatsanwalt beim Untersuchungsamt Uznach, mit der Geschichte der Staatsanwaltschaft des Kantons St.Gallen. Damit schliesst er eine rechtsgeschichtliche Lücke, da dazu bis anhin nur kleine Abrisse existierten. Der vorangegangene Text ist lediglich ein Auszug seines mehrteiligen Werkes, welches er in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv St.Gallen aus diversen Schriften, Urteilen, Zeitungsartikeln, Ratsprotokollen etc. schuf.